“Moralische Belastungssituationen – Herausforderung für sozialprofessionelle Ethik”

EthikJournal 9. Jg. (2023) Ausgabe 1
Andreas Lob-Hüdepohl/ Annette Riedel (Berlin/ Esslingen)

Neue gesellschaftliche und strukturelle Herausforderungen, zunehmende professionelle Anforderungen bei gleichzeitiger Ressourcenknappheit und auch eine zunehmende Komplexität ethischer Fragestellungen und Konflikte verstärken in nahezu allen Berufen des Gesundheits- und Sozialwesens das Phänomen „moralischer Belastungssituation“. Unter diesem Phänomen verstehen wir das immer wiederkehrende Auseinanderklaffen zwischen dem normativen Anforderungsprofil des etablierten Berufsethos oder sogar der kodifizierten Professionsmoral („Ethikkodex“) einerseits und dem tatsächlich realisierten und realisierbaren beruflichen Handeln andererseits, das nicht selten im Widerspruch zu den normativen Verbindlichkeiten des eigenen Berufsstandes steht. Dieses Auseinanderklaffen geht weit über das übliche Maß der Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit hinaus. Es lässt sich noch weniger auf das „klassische“ moraltheoretische bzw. moralpädagogische Problem mangelnder Performanz zurückführen, so dass auf Seiten moralischer Subjekte nicht selten eine bemerkenswerte Spannung zwischen ihren professionellen moralischen Einsichten beziehungsweise Überzeugungen und ihrem tatsächlichen Handeln zu beobachten ist. Moralische Belastungssituationen sind vielfach strukturell verursacht, was zur Folge hat, dass sich professionsmoralische Verbindlichkeiten unter den obwaltenden Feldbedingungen nicht realisieren lassen.

Auf moralische Belastungssituationen reagieren Professionelle unterschiedlich. Im Wissenschaftsdiskurs werden die Reaktionsweisen unter Stichworten wie „moral distress“, „cool(ing) out“, „Scheitern“ oder auch „dunkle Seiten“ diskutiert. Unbeschadet dieser unterschiedlichen Diskurse stellt sich das Phänomen nicht zuletzt auch als Herausforderung für das Konzept einer sozialprofessionellen Ethik selbst. Ähnlich wie bei der Bearbeitung von „moralischen Dilemmata“, in denen moralische Güter und Verbindlichkeiten in konkreten Situationen widerstreiten – und sich deshalb von moralischen Belastungssituationen wesentlich unterscheiden! –, steht eine sozialprofessionelle Ethik selbst in der Pflicht, das Phänomen „moralischer Belastungen“ bearbeitbar zu machen. „Moralische Dilemmata“ werden etwa durch Güterabwägungen kriterial wie prozedural entschärft. Im Idealfall begründen sie Vorzugsoptionen und generieren für die betroffenen Professionellen (neue) Handlungssicherheit. In ähnlicher Weise müsste eine sozialprofessionelle Ethik auch zur Bearbeitung „moralischer Belastungssituationen“ beitragen, will sie nicht zur „Ohnmacht des bloßen Sollens“ führen – dann wäre die sozialprofessionelle Ethik eher Teil des Problems als Teil der Lösung.

Voraussetzung für (etwaige) konzeptuelle Konsequenzen sozialprofessioneller Ethik ist eine sorgfältige Analyse des Phänomens „moralische Belastungssituationen“. Insbesondere ist es wichtig, zwischen moralischen Belastungssituationen (aus dem subjektiven Erleben der Professionellen heraus) und moralisch belastenden Situationen (aus den objektiven Situationsumständen heraus) zu differenzieren – auch im Hinblick auf die jeweiligen normativen Implikationen sowie den notwendigen Konsequenzen. Die vorliegende Publikation möchte zu einer weitergehenden Analyse dieser Phänomene und ihren jeweiligen Auswirkungen in (ausgewählten) Handlungsfeldern des Gesundheits- und Sozialwesens einen Beitrag leisten.

Der Beitrag von Michael Coors zeigt, dass die Diskussion um moralische Vulnerabilität und „moral distress“ nicht auf die moralpsychologische Dimension dieser Phänomene verengt werden darf. Der moralpsychologische Begriff moralischer Resilienz ist normativ unterbestimmt und damit problematisch. Zum einen darf die Stärkung der moralischen Resilienz nicht auf Kosten der ethischen Sensibilität erfolgen. Zum anderen lässt die Bezeichnung eines negativen Erlebens als „moral distress“ offen, welches die Normen und Werte sind, deren Nichterfüllbarkeit das Stresserleben auslöst. Darüber kann und muss ein intersubjektiver Diskurs geführt werden. Dazu kommt: Die Stärkung moralischer Resilienz als Antwort auf das Phänomen „moral distress“ zu verstehen bedeutet eine erneute Responsibilisierung der Fachkräfte. Das Einfordern von Resilienz kann als Entschuldigung dafür dienen, an systemischen Strukturen nichts zu ändern. Der Beitrag argumentiert deshalb dafür, Interventionen, die die moralisch vulnerabilisierenden Effekte des Gesundheitssystems reduzieren, gegenüber Interventionen, die die Betroffenen moralisch resilienter machen, aus ethischen Gründen vorzuziehen sind.

Sabine Schäper schildert, wie ein sich zuspitzender Fachkräftemangel, enger werdende ökonomische und personelle Spielräume und die gleichzeitige Zunahme der Komplexität fachlicher Anforderungen die Arbeitssituation in Einrichtungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit/in Behinderung zunehmend prekär werden lassen. Dabei muss im Hinblick auf das daraus folgende moralische Belastungserleben zwischen moralischem Unbehagen, moralischem Stress und moralischer Verletzung unterschieden werden. Der Beitrag schlägt drei Umgangsweisen mit dem Risiko, moralisch verletzt zu werden, vor: auf einer individuellen, einer organisationalen und einer gesellschaftlichen Ebene. Neben der Selbstsorge als individueller Bewältigungsstrategie ist es wichtig, „ethical reasoning“ in Organisationen zu kultivieren. Schließlich sollten sich Beschäftigte auf gesellschaftlicher Ebene solidarisch sowohl gegen Tendenzen der De-Professionalisierung und Merkantilisierung im gesundheits- und Sozialwesen wehren und sich gemeinsam für gute Arbeitsbedingungen einsetzen. Dies bedeutet auch, dass den Berufen im Sozial- und Gesundheitswesen endlich eine ihrer gesellschaftlichen Bedeutung angemessenen Wertschätzung zukommen muss.

Der Beitrag von Sabine Schneider konkretisiert moralische Belastungssituationen für Arbeitskontexte, in denen Menschen, die von Armut und Wohnungsnot betroffen sind, durch Fachkräfte unterstützt, beraten oder begleitet werden. Auf der Basis einiger ausgewählter, in empirischen Studien rekonstruierter Erfahrungen wird exemplarisch nachvollziehbar, welche Situationen Fachkräfte in diesen Arbeitskontexten als belastend erleben. Anschließend wird skizziert, welche Impulse zur Bewältigung dieser Situationen sich im Fachdiskurs finden lassen: (Fach- )politisches Engagement, also die Analyse und kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, moralisch inspirierte Kasuistik, die normative Orientierung professionellen Handelns in Spannungsfeldern liefert, sowie Reflexivität und Forschung schaffen demnach notwendige Voraussetzungen zur Verhinderung dysfunktionaler Bearbeitungsstrategien. Schließlich müssen die Arbeitsbedingungen, die zu „moral distress“ führen, auch zum Thema in Studium und beruflicher Sozialisation gemacht werden.

Der Beitrag von Stefan Kurzke-Maasmeier versteht sich als professionsethische Skizze zur Dynamik und Semantik „moralischer Belastungen“ im Kontext stationärer Jugendhilfe. Die stationären Hilfen zur Erziehung stehen unter einem erheblichen Druck. Der Zwiespalt zwischen professionellen und normativ-berufsethischen Ansprüchen einerseits, den strukturellen Gegebenheiten andererseits zeitigt Folgen auf unterschiedlichen Ebenen. So kann beispielsweise die zunehmende Erschöpfung der Fachkräfte dazu führen, dass die Fähigkeiten schwinden, Kindern und Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe eine sichere Basis und Beziehungsqualität zu geben. Um eine an den Bedürfnissen, Interessen und Rechten des jungen Menschen orientierte sozialpädagogische Haltung auch wirksam werden zu lassen, bedarf es einer ganzen Reihe persönlicher Fähigkeiten und methodischer Werkzeuge: Responsivität und hermeneutisches Verstehen; die Fähigkeit, das Unerwartete zuzulassen; das Vermögen zu einer selbstreflexiven Bedürfnisregulation. Zudem dürfen organisations- und strukturethische Aspekte nicht außer Acht gelassen werden. Als ein Forschungsdesiderat stellt der Autor die Frage danach heraus, inwiefern die identifizierten Bedürfniskonfliktetatsächlich professions- bzw. handlungsfeldspezifisch sind oder aber die Folge eines gesellschaftlichen Wandlungsprozesses. Pluralisierung von Lebensstilen und Wertvorstellungen könnten möglicherweise Konflikte zwischen universalistischen Wertorientierungen auf der einen, partikularistischen Identitäten und Binnenmoralen auf der anderen Seite verstärken.

Der Beitrag von Karen Klotz und Annette Riedel thematisiert Moralisches Belastungserleben von Pflegefachpersonen im Lichte des ICN-Ethikkodex. Nach einer genaueren Definition des Begriffs des moralischen Belastungserlebens thematisiert der Beitrag ausführlich, inwiefern der ICN-Ethikkodex zu Herausforderungen führt, aber auch Potenziale in Bezug auf die Prävention von und den Umgang mit moralischem Belastungserleben enthält. Der Kodex enthält eine ganze Reihe an konkreten professionsethischen Forderungen sowie an vielfältigen Verantwortlichkeiten. Damit entsteht möglicherweise eine Diskrepanz zwischen den Forderungen ICN-Ethikkodex und den aktuellen Gegebenheiten in der Pflegepraxis. Zugleich liefert der Kodex den Pflegefachpersonen eine Ressource, auf die sie sich gegenüber Einrichtungen, Trägern und Führungsverantwortlichen beziehen können: Diese stehen nämlich in der Verantwortung, Strategien zur Prävention von moralischem Belastungserleben zu entwickeln. Der ICN-Ethikkodex ist damit, so das Fazit der Autor:innen, ein grundlegendes und wertvolles ethisches Rahmen-, Orientierungs- und Bezugswerk. Allerdings nur dann, wenn sich die Rahmenbedingungen in der Pflege und folglich auch für Pflegefachpersonen spürbar und nachhaltig ändern, lassen sich die im Kodex formulierten ethischen Standards umfassend in die Praxis implementieren und die damit verbunden Intentionen umsetzten bzw. Effekte erreichen.

Mehrere Autor:innen unterstreichen die Notwendigkeit, dass moralische Belastungssituationen insbesondere einer ausdrücklichen Reflexion bedürfen, damit ihnen entgegengewirkt werden kann. Zu einer solchen Reflexion um der Praxis und der belasteten Personen willen hoffen wir mit dieser Ausgabe des EthikJournals beitragen zu können. Allen Autor:innen danken wir deshalb auch in dieser Hinsicht.

Quelle: EthikJournal 9. Jg. (2023) Ausgabe, Andreas Lob-Hüdepohl/ Annette Riedel (Berlin/ Esslingen)
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