Das Auslaufen der Corona-Maßnahmen bedeutet für Risikopatienten eine erhöhte Gefahr, schwer zu erkranken. Im Interview plädiert Ethikrats-Mitglied Prof. Andreas Lob-Hüdepohl für eine freiwillige Selbstbeschränkung.
Herr Prof. Lob-Hüdepohl, haben wir die Solidarität mit den vulnerablen Gruppen jetzt komplett aufgegeben?
Andreas Lob-Hüdepohl: Zunächst teile ich völlig die Angst vieler Risikopatient*innen. Wir haben die Solidarität nicht vollständig aufgelöst. Was aufgelöst ist, ist die Pflicht-Solidarität. Wir sind nach wie vor gezwungen, Masken in den öffentlichen Verkehrsmitteln zu tragen. Auch einrichtungsbezogene Impfpflichten gibt es – da haben wir also noch eine Pflicht-Solidarität. Es hindert uns allerdings nichts daran, in der Bevölkerung freiwillig Solidarität zu üben, damit der Freiheitsgewinn der vielen Risikopatient*innen nicht wieder verloren geht. Denn es geht tatsächlich auch um ihre Freiheit, nicht nur um unsere Freiheit.
Ich war gerade in Ihrem Sendegebiet im Urlaub. Da haben nahezu alle freiwillig Masken getragen, auch in den Geschäften und dergleichen, obwohl sie dazu nicht verpflichtet waren. Es kommt also darauf an, dass wir jetzt diese freiwillige Solidarität üben, die wir nach meinem Dafürhalten Risikopatient*innen und auch ihren An- und Zugehörigen schulden. Das verlangt von uns mehr als nur Normbefolgung. Allerdings sollten wir genau diesen Weg gehen.
Viele könnten jetzt sagen: Wenn es ohne Maske erlaubt ist, dann mache ich das auch, kann ja nicht so schlimm sein. Braucht es aus ethischer Perspektive nicht doch ein bisschen mehr Anleitung im Sinne von Regeln, wenn auch vielleicht weniger streng als bisher?
Lob-Hüdepohl: Die Regeln, die noch verpflichtend sind, beispielsweise die Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr, müssen nicht nur eingehalten, sondern auch kontrolliert werden. Die gelten natürlich. Zudem haben Sie natürlich Recht, dass bei nicht wenigen Menschen der Eindruck entsteht: Das, was nicht streng geboten oder verboten ist, ist auch nicht so schlimm. Insofern ist es nicht so schlimm, wenn ich beispielsweise keine Maske trage im Kino oder im Lebensmittelgeschäften. Insofern ist es richtig, dass wir ein Grundmaß an verpflichtenden Regeln haben. Ich gestehe ihnen freimütig: Ich würde immer plädieren, und auch dem Gesetzgeber empfehlen, diese zwar lästigen, aber doch niedrigschwelligen Regeln wie Maskenpflicht und dergleichen weiterhin gesetzlich vorzuschreiben. Dazu hat sich der Deutsche Bundestag nicht entschließen können. Ich bedauere das sehr, weil damit Basisregeln nicht erfolgen, die uns nicht viel kosten.
Ich muss auch über viele Stunden mit Maske Vorlesungen halten. Das ist alles nicht angenehm. Dennoch: eine nach meinem Dafürhalten akzeptable Einschränkung zugunsten der Freiheit jener, die ansonsten zuhause bleiben müssen.
Ein wunder Punkt ist für viele auch die Situation in den Schulen. Wenn man als Hochrisikopatient ein Schulkind hat, wird es sehr schwer, sich selbst zu schützen. Das sind die sogenannten Schattenfamilien. Was kann man da tun – gesellschaftlich und politisch?
Lob-Hüdepohl: Ich weiß, dass viele Schulen mit Blick auf diese Schattenfamilien genau an jene Freiwilligkeit der Selbstbeschränkung appellieren bei Lehrerinnen und Lehrern, Schülerinnen und Schülern. Da gibt es auch eine sehr hohe Akzeptanz. Je mehr wir sehen, dass Menschen unmittelbar betroffen sind, auch mit großen Risiken, dann setzt sich insbesondere bei Kindern und Jugendlichen ein unglaubliches Solidaritäts-Bewusstsein durch. Das praktizieren die auch. Im Falle dieser besonders vulnerablen Gruppen müsste man weiterhin verpflichtende Schutzregeln durchsetzen. Ich hoffe, dass die Länder sich zu einem solchen Schritt entscheiden können. In Berlin, meinem Heimatbundesland, ist das noch der Fall. Ich hoffe, dass sich das auch weiter durchsetzt, denn diese Menschen haben unsere Solidarität verdient.
Das Interview führte Liane Koßmann.
Quelle: 30.04.2022, Liane Koßmann, Norddeutscher Rundfunk (NDR)
https://www.ndr.de/kultur/Corona-Massnahmen-Keine-Solidaritaet-mehr-mit-den-Schwachen-,lobhuedepohl102.html