„Eine moralische Impfpflicht für alle gibt es ohnehin”

Von Ricarda Breyton

Ethikratsmitglied Lob-Hüdepohl stellt klar: Auch Kinder und Jugendliche trügen eine Verantwortung für die Gesellschaft – und sie hätten vom Impfen unmittelbaren Nutzen. Eine Impfpflicht für Schüler sei grundsätzlich denkbar. Und er sieht ein Gerechtigkeitsdefizit für Ungeimpfte.

Andreas Lob-Hüdepohl hat seinen Arbeitsschwerpunkt im Deutschen Ethikrat unter anderem in der Ethikberatung im Gesundheitswesen. Der 61-jährige Theologe lehrt an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin.

WELT: Herr Lob-Hüdepohl, die Bundesregierung treibt die Kinderimpfungen mit hohem Tempo voran. Noch im August sollen alle über Zwölfjährigen ein Impfangebot erhalten, falls der Biontech-Pfizer-Impfstoff für diese Altersgruppe in der EU schnell zugelassen wird. Halten Sie die Eile für richtig?

Andreas Lob-Hüdepohl: Ich halte das Tempo für sehr richtig – vorausgesetzt, der Impfstoff für Kinder wird ordentlich geprüft. Das System Schule muss nach 14, 15 Monaten faktischer Schließung unbedingt wieder ins Laufen gebracht werden.

WELT: Die Ständige Impfkommission (Stiko) ist allerdings skeptisch. Es lägen noch keine ausreichenden Daten vor, um eine generelle Impfempfehlung für Kinder ab zwölf Jahren auszusprechen. Können Bund und Länder die Stiko ignorieren?

Lob-Hüdepohl: Nein, das sollten sie nicht tun und werden sie nicht tun. Zu den normalen Sicherheitsstandards gehört, dass die Stiko als zuständige Behörde die Datenlage nach der EU-Zulassung sorgfältig prüft und über ihre Impfempfehlung entscheidet. Viele Stiko-Mitglieder sind Kinderärzte, weil ein Großteil der Flächenimpfungen im Kindesalter stattfinden. Sie sind also vom Fach.

WELT: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat aber bereits angedeutet, notfalls auch ohne Empfehlung der Stiko impfen zu lassen …

Lob-Hüdepohl: Rechtlich wäre das möglich. Die Bundesländer, die die Impfungen verantworten, müssen sich nicht an die Stiko-Empfehlung halten. Als Ethiker hielte ich einen solchen Schritt allerdings für hoch bedenklich. Bund und Länder haben im November aus guten Gründen entschieden: Wir lassen die EMA (Europäische Arzneimittel-Agentur, d. Red.) und nachgelagert auch unsere Bundesbehörden die Zulassung prüfen und empfehlen. Das Einhalten dieses Verfahrens ist ein sehr wichtiger Baustein für das Vertrauen der Bevölkerung in eine erst langsam erforschte Vakzinlage.

Normalerweise dauert die Zulassung solcher Impfstoffe fünf, sechs Jahre, um über etwaige Nebenwirkungen Erfahrungen zu sammeln. In der Pandemie mussten wir das Verfahren verkürzen. Das trage ich mit. Aber unsere üblichen prozeduralen Sicherheitsstandards dürfen wir nicht ohne Not ausschalten.

WELT: Die meisten Kinder sind nicht gefährdet, schwer an Corona zu erkranken. Der individuelle Nutzen einer Impfung ist also vergleichsweise gering. Ist es vertretbar, sie mit Blick auf eine Herdenimmunität trotzdem zu impfen?

Lob-Hüdepohl: Auch Kinder und Jugendliche haben eine Verantwortung für die Gesamtgesellschaft. Immer unter der Voraussetzung eines geringen Risikos und einer geringen Belastung. Es ist also ethisch legitim, sie bei den Impfungen in den Blick zu nehmen.

Mit der Masern-Impfpflicht machen wir das auch. Kinder haben aber auch unmittelbar einen eminenten Nutzen. Das System Schule mit all seinen Facetten – Bildung, Kontakte, Freundschaften – funktioniert nur, wenn Infektionsketten nachhaltig unterbrochen sind.

WELT: Halten Sie mit Blick auf die Schule eine Corona-Impfpflicht für denkbar, wenn sich nicht genug Freiwillige für eine Impfung finden?

Lob-Hüdepohl: Grundsätzlich ja. Die Hürden sind aber sehr hoch, weil es sich um einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit handelt. Erstens muss das mit einer Impfung verbundene Risiko zumutbar bleiben. Die Nebenwirkungen müssen bekannt und akzeptabel sein. Zweitens muss die Impfung auch erforderlich sein.

Bei den Masern brauchen wir eine Durchimpfung von 95 Prozent, um eine Gemeinschaftsimmunität zu erreichen. Deswegen haben wir hier eine Impfpflicht. Bei Corona reichen wahrscheinlich 70 bis 75 Prozent. Angesichts der hohen Impfbereitschaft gehe ich davon aus, dass wir dieses Ziel auch ohne rechtliche Impfpflicht erreichen. Eine moralische Impfpflicht für alle gibt es ohnehin.

WELT: Was meinen Sie damit?

Lob-Hüdepohl: Moralische Impfpflicht heißt: Jeder sollte sich verpflichtet fühlen, nicht nur sich, sondern auch andere zu schützen. Das gebietet der Grundgedanke der Solidarität in einer Gemeinschaft. Von dieser profitiert jeder.

Wenn die Pandemie irgendwann zusammenbricht, weil sich viele Menschen impfen lassen, sind auch die Nicht-Geimpften besser vor Gesundheitsschäden geschützt. Auch diejenigen, die sagen, eine Krankheit ist mir egal. Wenn sie doch in einem Krankenhaus landen, muss die Gemeinschaft dafür aufkommen.

WELT: Mehrere Bundesländer wollen die Impfungen demnächst für alle freigeben. Ist das gerecht? Noch sind ja nicht alle Risikogruppen geimpft.

Lob-Hüdepohl: Ja und nein. Es hängt davon ab, für welchen Impfstoff die Priorisierungsregeln außer Kraft gesetzt werden. Bei den Impfstoffen, die unter Akzeptanzprobleme leiden, halte ich die Freigabe sogar für moralisch geboten. Es wäre unverantwortlich, Millionen von Impfdosen verrotten zu lassen. Bei sehr knappen Impfstoffen halte ich die Aufhebung der Priorisierung für falsch.

Warum? Weil es gegen das Prinzip der Gerechtigkeit verstößt, die noch nicht durchgeimpften Personen mit höherer Dringlichkeit dem Windhund- und Ellenbogenprinzip auszusetzen. Die über 80-Jährigen haben ein 500-fach höheres Risiko, schwer an Corona zu erkranken, als die 40-Jährigen. Die über 60-Jährigen immerhin noch ein 50-faches Risiko.

Wenn Bayern, Baden-Württemberg und jetzt auch Berlin und Brandenburg die Priorisierungsregeln außer Kraft setzen, setzen sie auch das Gerechtigkeitsprinzip in der Impfstoffverteilung außer Kraft.

WELT: Die Entscheidung ist auch ein Schlag gegen den Ethikrat, der die Priorisierung mit ausgearbeitet hat. Fühlen Sie sich noch ernst genommen?

Lob-Hüdepohl: Ja, natürlich, das muss man entspannt sehen. Der Ethikrat ist wie die Stiko oder die Leopoldina ein Beratungsorgan. Wir entscheiden nicht. Nur Parlamente und Exekutive haben ein Mandat der Bevölkerung. Deswegen müssen sie auch immer die Möglichkeit haben, sich über Expertenmeinungen hinwegzusetzen. Wir leben in einer Demokratie, nicht in einer Expertokratie.

WELT: Auch bei den Freiheitsrechten für Geimpfte hat sich die Politik über die Empfehlungen des Ethikrats hinweggesetzt. Sie waren skeptisch, was Lockerungen für diese Gruppe betrifft.

Lob-Hüdepohl: Der Ethikrat hat sich im Februar in einer Ad-hoc-Empfehlung erklärt. Da ging es nicht ums Gönnen oder Nichtgönnen von Freiheiten. Wir haben stattdessen unisono gesagt: Solange die Ansteckungsgefahr bei vollständig Geimpften nicht ausgeschlossen ist, ist an Lockerungen nicht zu denken.

In der Zwischenzeit wissen wir, dass tatsächlich nur noch ein geringes Ansteckungsrisiko besteht. Auch ich halte die Gleichstellung von vollständig Geimpften mit negativ Getesteten für geboten. Weitere Tests brächten keinen Erkenntnisgewinn und wären auch eine Verschwendung von wichtigen Ressourcen.

WELT: Im Corona-Ausschuss des Bundestags haben Sie aber neulich angedeutet: Mit weitreichenden Ausnahmen für Geimpfte etwa von den Ausgangssperren hätten Sie ein Problem.

Lob-Hüdepohl: Ich habe deswegen ein Problem, weil ich ein Gerechtigkeitsdefizit sehe. Wie ist es denn möglich, dass heute Millionen von Menschen zweifach geimpft sind? Doch nur dadurch, dass Millionen andere zurückgestellt wurden. Das geschah aus guten Gründen, denn andere hatten die Impfungen dringender nötig.

Doch den Zurückgestellten entsteht nun ein doppelter Nachteil. Sie müssen Einschränkungen ihres Gesundheitsschutzes hinnehmen und zudem länger warten, bis sie wieder in den Genuss ihrer Grundrechte kommen. Das ist durchaus bedenklich – auch mit Blick auf unsere Verfassung. Das Leben in Gerechtigkeit ist eines der grundgesetzlichen Ziele.

WELT: Was schlagen Sie vor?

Lob-Hüdepohl: Der Gesetzgeber muss sich überlegen, ob er Nicht-Geimpften Kompensationsmöglichkeiten anbietet. Das könnten flächendeckende Testmöglichkeiten sein, die wirklich überall kostenfrei zur Verfügung stehen – auch auf dem Land.

Mittels derer müssten auch Nicht-Geimpfte wieder in den Genuss bestimmter Freiheiten kommen können. Wer einen negativen aktuellen PCR-Test vorweisen kann, muss eine Party besuchen können, ähnlich wie Geimpfte. Ansonsten bekommen wir ein großes Akzeptanzproblem.

Quelle: WELT (Axel Springer SE)
https://www.welt.de/politik/deutschland/article231178627/Ethikrat-Eine-moralische-Impfpflicht-fuer-alle-gibt-es-ohnehin.html