Zum Fall der Essener Tafel: Besonders verletzliche Menschen zu bevorzugen ist moralisch legitim, ja sogar geboten – auch, wenn sich in der Konsequenz andere hinten anstellen müssen
Alexander Dobrindt hat jüngst die Entscheidung der ‚Essener Tafel’, vorerst nur deutschen Staatsbürgern eine Berechtigungskarte zur Nutzung ihrer Nahrungsmittelausgabe auszuhändigen, mit der Begründung verteidigt, jene schützen zu müssen, „die angestammt berechtigt sind“. „Angestammt berechtigt“ – das steht für „Etabliertenvorrechte“: Zuerst bekommen die, die schon lange oder schon immer dazugehören. Neuankömmlinge, etwa Geflüchtete oder aus anderen Gründen Hinzugezogene, mögen zwar auch bestimmte Rechte auf Unterstützung besitzen. Aber sie müssen sich gedulden, bis die Bedürfnisse der „Etablierten“ befriedigt, und sie an der Reihe sind. Es gilt die Devise: Hinten anstellen!
Zwar mag unser spontanes Gefühl dieser Devise zustimmen. Gleichwohl: Etabliertenvorrechte sind besonders rechtfertigungspflichtig. Denn sie verstoßen gegen den Gleichheitsgrundsatz einer menschen- bzw. grundrechtsbasierten Gesellschaft. Jeder Mensch hat Anspruch auf gleiche Behandlung – und zwar völlig unabhängig, seines Alters, seines Geschlechtes, seiner Religion, seiner Hautfarbe, seiner persönlichen Leistungsfähigkeit oder seiner charakterlichen Ausstattung. Das gebieten elementare Grundsätze der Gerechtigkeit, die seit Aristoteles an der Wiege abendländischen Denkens stehen und sich zum Prinzip der Fundamentalgleichheit aller Menschen entwickelt haben.
Natürlich können manche ‚Etabliertenvorrechte’ gerechtfertigt werden. Bestimmte Staatsbürgerrechte zählen dazu: Das allgemeine Wahlrecht ist – von ersten Ausnahmen im kommunalen Wahlrecht abgesehen – deutschen Staatsbürgern vorbehalten. Dieses Privileg gegenüber anderen Teilen der Bevölkerung lässt sich etwa mit Pflichten rechtfertigen, die Staatsbürgern zusätzlich auferlegt sind (Kontinuitätssicherung und Verteidigung des Staates, Wehrpflicht usw.). Die ‚Tafeln’ in Deutschland verteilen freilich keine Güter, die solchen Staatsbürgervorrechten entsprechen. Sie verteilen im wesentlichen Nahrungsmittel, die der elementaren alltäglichen Lebenssicherung von armutsbedrohten oder schon verarmten Menschen dienen.
Ihr ausschließliches Verteilungskriterium ist zu Recht die besondere Bedürftigkeit ihrer Nutzer, nicht deren staatsbürgerliche Etablierung in der Gesellschaft. Diese Bedürftigkeit darf und muss geprüft werden – vorausgesetzt, die Prüfkriterien sind der Sache angemessen und fördern keine Willkür. So ist es legitim, wenn die besondere Bedürftigkeit an formalen Kriterien (z.B. Sozialhilfeberechtigung, Familiengröße, zu versorgende Kinder) festgemacht wird – vor allem dann, wenn die zur Verteilung anstehenden Güter begrenzt sind und die Nachfrage das Angebot bei Weitem übersteigt. In diesem Sinne kann und muss die besondere Bedürftigkeit, die zur Nutzung einer „Tafel“ berechtigt, sogar generell oder vorübergehend graduiert werden: zuerst die besonders Bedürftigen und danach die weniger Bedürftigen usw. Die Staatsangehörigkeit sagt aber ersichtlich nichts über eine solche besondere Bedürftigkeit aus. Sie ist deshalb als Kriterium willkürlich und moralisch illegitim.
Freilich müssen verschiedene Bedürftigkeiten beachtet werden. Es gibt die materielle Bedürftigkeit, die sich zum Beispiel auf die Unterversorgung an Nahrungsmitteln bezieht. Und es gibt eine Bedürftigkeit, die eine Unterausstattung an immateriellen Ressourcen spiegelt. Etwa die mangelnde Fähigkeit, die eigenen legitimen Interessen durchzusetzen. Es gibt starke Akteure, die sich zu behaupten wissen. Und es gibt schwache Akteure, die sich allzu schnell abdrängen lassen, die eher ängstlich und verzagt für ihre eigenen Interessen eintreten. Oder sie treten überhaupt nicht ein, sondern ziehen sich zurück. Wir sprechen hier von besonders vulnerablen Menschen(- gruppen.) Zu ihnen zählen überdurchschnittlich viele Alleinerziehende, Frauen, Ältere, Behinderte, chronisch Erkrankte. Wir kennen zahlreiche Gelegenheiten, wo diesen Menschen manchmal sogar ein besonderer Vorteil gewährt wird, damit sie die Nachteile ihrer Lebenslage ausgleichen können: etwa der Vortritt beim Boarding, damit sie auf dem Weg zum Flugzeug nicht von anderen Fluggästen überrannt und bei der Platzsuche faktisch benachteiligt werden. Armutsforschung und Soziale Arbeit wissen längst: Solche gesamtgesellschaftlichen Unterschiede setzen sich bis in die Lebenslagen armutsgefährdeter Menschen fort. Deshalb sehen sich Tafeln gezwungen, den Zugang zu regulieren. Damit möchten sie diese besonders verletzlichen Menschen schützen. Das ist selbst dann moralisch legitim, ja sogar geboten, wenn in der Konsequenz andere zeitweilig hintanstehen müssen. Es ist ein Gebot der Gerechtigkeit, verletzlichen Menschen(-gruppen) diese besondere Solidarität zu erweisen; sie zu schützen oder noch besser, sie darin zu stärken, sich nicht abdrängen zu lassen und zurückzuziehen. Natürlich ist es der beste Schutz, solche Konkurrenzsituationen überhaupt nicht erst entstehen zu lassen. Noch besser ist es, der Entstehung armutsassoziierter Bedürftigkeit durch eine ausreichende Sozialpolitik und professionelle Unterstützung wirksam vorzubeugen. Aber alleine darauf zu verweisen und abzuwarten, bis sich Politik und Gesellschaft gebessert haben, wäre zynisch.
Einen anderen Weg gehen die Tafeln. Sie stellen sich dem alltäglichen Handgemenge der Nahrungsmittelausgabe an Bedürftige, das eines reichen Wohlfahrtsstaates eigentlich unwürdig ist. Man mag fragen, ob ihr ehrenamtliches Engagement das eklatante Staatsversagen im Bereich der Armutsbekämpfung unbeabsichtigt weiter zementiert. Aber eine sozialethisch hoch bedenkliche Entscheidung wie die für das Kriterium der Staatsangehörigkeit unbesehen als rassistisch oder gar faschistisch zu brandmarken, ist absurd. Ebenso absurd ist es, die entstehenden Konkurrenzsituationen als Indiz für das Scheitern von Integrationsbemühungen anzuführen und auf Etabliertenrechte zu pochen. Das aktiviert lediglich rechtspopulistische Neidgefühle.
Erschienen: 04. März 2018 in DER TAGESSPIEGEL
Link: https://causa.tagesspiegel.de/politik/essener-tafel-darf-man-deutsche-bevorzugen/der-einen-und-der-anderen-not.html